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Dieser 1,30 m hohe Nischenstock mit Kreuzbekrönung steht zwischen Rodder Maar und Wanderparkplatz Rodder Maar an der Ecke Eifelleiter/ Eifelleiter-Zuweg, ca. 300 m entfernt vom Wanderparkplatz.
Das Zentrum besteht aus einer großen Spitzgiebelnische. Nach Müller-Veltin sind Nischenstöcke mit Kreuzbekrönung „offensichtlich aus dem Schöpflöffel hervorgegangen (…) das Mal ist wie der Schöpflöffel (…) auf die Nische hin konzipiert; das Kreuz ist lediglich Attribut“ (S.12).
Die Inschrift auf dem Kreuzbalken bedeutet: „Gebenedeit sei Gott der Herr“.
Am Kreuzkopf befinden sich eine symbolisierte Ziffer und eine 6. Die Ziffer kann als ein etwas ausgeschwungenes Zeichen für die „1“ gelesen werden. Diese Lesart findet sich in Bürger (1992, S.460). Zusammengesetzt ergibt das eine 16, und Bürger interpretiert auf dieser Grundlage ergänzend die Jahreszahl 1616. Er versieht seine Interpretation jedoch selbst mit einem Fragezeichen. Es sollte dabei berücksichtigt werden, dass in der Entstehungszeit dieses Kreuzes das Einmeißeln von Buchstaben und Ziffern nicht im heutigen Sinn exakt erfolgte. Müller-Veltin weist darauf hin, „daß die Schrifthauer nicht oder nur wenig schriftkundig waren und einfach nach Schablonen arbeiteten. (…) Statt Regeln gab es allenfalls Schriftgewohnheiten. Sie entsprachen nicht unbedingt heutiger Auffassung“ (S.160).
Für diejenigen, die heute diese Zeugen der Vergangenheit betrachten, ergibt das einen anregenden Spielraum, der dazu einlädt, sich über das Objekt selbst, die möglichen Umstände seiner Herstellung und die gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten jener Zeit Gedanken zu machen. Auch wenn es kaum oder nicht immer möglich ist, die Ergebnisse dieses Nachdenkens zu belegen, stellen sie doch eine Würdigung dieser Denk-Male dar, die die Zeit überdauert haben. Im Fall dieses Nischenstocks in der Nähe des Rodder Maars ergeben sich einige interessante Zugänge zu möglichen Deutungen.
Zunächst könnte sich zum Beispiel eine alternative Lesart der Jahresangabe ergeben, wenn man die tabellarische „Übersicht über die Entwicklung der Ziffern“ zu Rate zieht, wie sie unter suehnekreuz.de zu finden ist. Da ließe sich die erste Ziffer auch als eine „5“ lesen. Das könnte dann auf das Entstehungsjahr (16)56 hinweisen, also etwas später als Bürgers Deutung.
Weitere Anregungen ergeben sich aus den Zeichen unterhalb der Nische. Während die Inschrift auf dem Kreuzbalken gut zu lesen ist, geben die Zeichen unterhalb der Nische Rätsel auf. Beim sorgfältigen Betrachten und Abtasten deuten sich von links die Buchstaben A.W.H. an. Die Schrift scheint ausgeführt zu sein im Typ der Frühhumanistischen Capitalis (siehe: OnlineBiliothek.de). Dem folgt eine „4“ in alter Schreibweise: Sie wurde „ – wie im 15. Jahrhundert noch häufig üblich – als halbe, nach unten offene 8 geschrieben“ (Dallhammer 1986, S.28).
Was mögen diese Zeichen bedeuten? Sie stehen sicher nicht zufällig da, und sie stehen sicher auch nicht in dieser Kombination zufällig da. Die Vermutung liegt nahe, dass diese Zeichen auf etwas hindeuten, was sowohl eine Zeitangabe als auch möglicherweise einen Anlass anzeigen kann.
Ein erster Versuch richtet sich auf eine Jahreszahl. Angenommen der Buchstabe A steht als erster Buchstabe des Alphabets für die Zahl 1. Mit dem folgenden Buchstaben W gäbe es dann ein Problem, denn er kommt in der Frühhumanistischen Capitalis nicht vor. Das V kommt allerdings vor. Deshalb kann hier von zwei verschränkten V ausgegangen werden. Das ergibt zweimal die römische 5, also 55. Das H schließlich ist auch in der Frühhumanistischen Capitalis der 8. Buchstabe im Alphabet. Alles zusammen lässt sich das zu einer Jahreszahl zusammenfassen: 1558. In dieser Lesart würde hier auf ein Ereignis verwiesen, das im Jahr 1558 stattgefunden hat.
Aber vielleicht geben die Zeichen noch mehr her, die symbolisierte 4 am Ende der Reihe stünde sonst etwas sinnfrei im Raum. Es liegt nahe, wieder bei A=1 zu beginnen und dann das erste V als 5 zu nehmen und der 1 zuzuordnen. Das ergäbe 15. Das nächste V stünde dann als 5 für den fünften Monat, also Mai. Das folgende H wiederum gilt im Lateinischen als Abkürzung für Hora = Stunde. In diesem Fall bezieht sich das vermutlich nicht auf die absolute Stundenfolge (in diesem Fall: morgens um 4 Uhr), sondern auf die Abfolge der Horen, der Stundengebete. Die Stundengebete sind in der kirchlichen Liturgie Zeitordner für das Sprechen bestimmter Gebete. Durch sie „wird der Tag ungefähr in einen 3-Stunden-Rhythmus strukturiert, beginnend am Morgen gegen sechs Uhr“ (Wikipedia.de).
In Kombination mit dem Zeichen für die „4“ ließe sich interpretieren, dass hier auf etwas verwiesen ist, was während der vierten Hore eines Tages stattfand. Die 4. Hore wäre dann die Zeit zwischen 15 und 18 Uhr, also nachmittags.
Wenn man die beiden Ableitungen zusammenfasst, könnte man davon ausgehen, dass am Nachmittag des 15. Mai 1558 etwas geschehen ist, woran mit diesem Nischenstock erinnert werden soll. Aber was? Und auch hier geben die Zeichen einen Hinweis. Die beiden verschränkten V in der Mitte der Buchstaben könnten auf das lateinische „vale“ hinweisen, was sowohl „sei gesegnet“ bedeuten kann, also auch „lebe wohl“, bis hin zu „lebe wohl auf ewig“*. Und das doppelte V könnte auch als „vita vanescat“ gelesen werden: das Leben von jemandem verging, jemand starb und man wünschte ihm Lebewohl!
An was genau hier erinnert wird, bleibt dennoch weiter ein Rätsel. Ebenso bleibt es ein Rätsel, um wen es sich hier gehandelt haben mag. Vielleicht kann das letzte Zeichen weiterhelfen. Welche Bewandtnis könnte es mit der „4“ in der Form der nach unten offenen 8 haben? Vielleicht ist auch dieses Zeichen wie die anderen in mehrfacher Bedeutung verwendet worden. Eine Vermutung gründet auf dem Hinweis, dass die Vier traditionell „als Kaufmannszeichen gedeutet“ wird** (suehnekreuz.de). In der frühen Neuzeit wurden den „traditionellen drei Ständen der Gesellschaft, dem Klerus, dem Adel und den Bürgern, (…) als vierte Säule die Kaufleute zugeordnet“ (Wikipedia). Womöglich war es also ein Kaufmann, der dieses Kreuz gestiftet hat. Das wappenförmige Relief unterhalb der Nische im Schaft könnte ursprünglich eine entsprechende Hausmarke enthalten haben. Allerdings ist das Relief zu verwittert, um das belegen zu können. Sollten die hier angestellten Überlegungen nicht allzu weit vom Schuss sein, müsste es sich auf jeden Fall sowohl um eine begüterte als auch humanistisch gebildete Person gehandelt haben, die für das Aufstellen dieses Mals gesorgt hat. Wieso das erst fast 60 Jahre nach dem Ereignis geschah (bzw. fast 100, nimmt man die Jahreszahl 1656) bleibt ebenfalls ungeklärt.
Und alle Überlegungen dazu bleiben vorläufig nicht mehr und nicht weniger als eine Verbeugung vor einem ehrwürdigen Zeitzeugen. Interessant ist noch, dass in dem Beitrag der OnlineBibliothek zu den Alten Schriften der Schrifttyp der Frühhumanistischen Capitalis ebenfalls mit 1558 datiert ist. Es ist doch schön, wenn ein alter Stein zu solchen verblüffenden Verbindungen beitragen kann.
Was gesagt werden kann: Gleich welche der Zahlen nun letztlich das tatsächliche Datum der Errichtung korrekt wiedergibt, bzw. des Anlasses, weshalb das Mal errichtet wurde: es waren bewegte Zeiten. Auch im Zissener Ländchen sorgten die Auseinandersetzungen zwischen den Glaubensbekenntnissen nach der Reformation für Herausforderungen (Mitte der 1550iger Jahre, siehe Bürger S.375). Und der Dreißigjährige Krieg warf seine Schatten voraus (1616), bzw. hatte das Land verheert (1656). Anlässe genug, auch heute angesichts dieses Zeitzeugen und von ihm angeregt nachzudenken über die Notwendigkeit, immer wieder neu für Frieden zu sorgen.
* Im Lateinisch-deutschen Wörterbuch von Petschenig (1968) wird noch auf das Horaz-Zitat „Vive, vale!“ hingewiesen, in der Edition der Horaz-Briefe übersetzt mit „gehab dich wohl!“ (projekt-gutenberg.org).
**„Bei Claude Jérôme (Le „quatre de chiffre“ des Marchands à Wissembourg (dt. Die „Ziffer Vier“ der Händler von Weißenburg), l’Outre-Fôret (IV-2006) No.136, p.31-36) wird die Vier als Kaufmannszeichen gedeutet, die aus dem Symbol des Merkurstabs abgeleitet ist. (mercator = Kaufmann). Esoterisch gesehen entspricht die vier der Zahl der Elemente und damit der Materie.“ (suehnekreuz.de).
Wer sich für Hausmarken von Kaufleuten in der frühen Neuzeit interessiert, findet gehaltvolle Informationen dazu in Kawaletz & Junker (2019), sowie zur „4“ in Markenzeichen von Kaufleuten bei Wolf & Menzel (2015).
Quellen:
Bürger, Udo (1992/ 2. überarb. und erg. Aufl. 2020) Chronik Niederzissen. Geschichtliches der Brohltal-Gemeinde in Wort und Bild. Niederzissen: Gemeinde Niederzissen (Herausgeberin)
Dallhammer, Hermann (Hrsg.) (1986) Wenn Steine reden. Ansbacher Inschriften. Ansbach: Hercynia Verlag
Kawaletz, Andreas & Junker, Ullrich (2019) Die Hausmarke als Handels- und Warenzeichen der Hirschberger Leinen- und Schleierkaufherrn. Online, Internet: http://jbc.jelenia-gora.pl/Content/36406/39968-Hausmarken-Junker-Kawaletz.pdf
Petschenig, Michael (1968) Der kleine Stowasser. Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch. München: G. Freytag-Verlag
Müller-Veltin, Kurt (1980) Mittelrheinische Steinkreuze aus Basaltlava. (= Rheinischer Verein für Denkmalpflege und Landschaftsschutz, Jahrbuch 1976/77). Neuss: Verlag Gesellschaft für Buchdruckerei
Wolf, Reinhard & Menzel, Petra (2015) Die geheimnisvolle «4» – Markenzeichen der Kaufleute. Herrenberger Beispiele der Kaufmannsfamilie Khönle. Online, Internet: Schwäbische Heimat 2/2015, S.208-214. Online, Internet: https://journals.wlb-stuttgart.de
Gutenberg-Projekt: https://www.projekt-gutenberg.org/horaz/briefe/brho1062.html (Horaz: Sechster Brief. An Numicius)
OnlineBibliothek.de: https://www.obib.de/Schriften/AlteSchriften/Mittelalter/humanistischeKapitalis.html (Schrifttyp Frühhumanistische Capitalis)
http://www.suehnekreuz.de/ikono/schrift.html (Übersicht über die Entwicklung der Ziffern)
https://de.wikipedia.org/wiki/Hore_(Liturgie)
https://de.wikipedia.org/wiki/Kaufmann