Geschichten von Flucht und Vertreibung

Freuten sich über einen gelungenen Neujahrsempfang (von links): Rolf Hans, Maryna Balan, Werner Rex, Susanne Müller, Charles Makanga, Petra Schneider, Richard Keuler, Ghazel Wahisi, Joachim Dedenbach sowie Myrna Mardo. Foto: Martin Ingenhoven

Neujahrsempfang des Kultur- und Heimatvereins Niederzissen fand in der Bausenberghalle statt

Niederzissen. „Das wirklich Böse ist das, was bei uns sprachloses Entsetzen verursacht, wenn wir nichts anderes mehr sagen können, als: Dies hätte nie geschehen dürfen.“ Mit diesem Zitat der Historikerin und Publizistin Hanna Arendt eröffnete der Vorsitzende des Kultur- und Heimatvereins Niederzissen, Richard Keuler, den Neujahrsempfang in der Niederzissener Bausenberghalle. Neben geschichtlichen Themen war auch die aktuelle Debatte um ein Verbotsverfahren der AfD Thema und die Integration von Flüchtlingen im Kreis Ahrweiler.

Erforschung und Bewahrung der lokalen Geschichte sind das Ziel des Kultur- und Heimatvereins Niederzissen. Mit der alten Synagoge Niederzissen verfügt der Verein über ein einzigartiges Mahnmal zu Verfolgung, Vertreibung und Rassismus. Von Hanna Arendt zog Keuler eine Parallele in die aktuelle Zeit. „Zudem zeigt sich der Ungeist des Rassismus und vor allem des Antisemitismus offener denn je in unserer Republik. Da wird sich in einem Hotel in Potsdam getroffen und ein Masterplan zu millionenfachen Rauswürfen aus Deutschland entworfen. Hatten wir nicht schon einmal Ähnliches?“, fragte Keuler und sprach von einer AfD-gesteuerten Wannseekonferenz. Doch statt weitere mahnende Worte an sein Publikum zu richten, überließ der Vereinsvorsitzende Menschen mit realer Fluchterfahrung die Bühne. Werner Rex, Vorsitzender der ökumenischen Flüchtlingshilfe Rhein-Ahr war es gelungen, drei geflüchtete Menschen zu finden, die über Flucht und Heimat aus ihrer persönlichen Erfahrung berichteten. Der 29-jährige Charles Makanga aus Uganda kam mit einem regulären Visum nach Deutschland. Als studierter Informatiker wollte er eine Fachmesse in Europa besuchen, entschied sich aber aus persönlichen Gründen, in Europa zu bleiben. Makanga stellte einen Asylantrag, der abgelehnt wurde. Doch der junge Mann war fest entschlossen, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. „Ich habe mir eine Ausbildungsstelle als Konditor organisiert, habe diese 2022 abgeschlossen und besuche nun die Meisterschule“, berichtete Makanga, der in Mayen eine neue Heimat gefunden hat. Zwischenzeitlich hatte er im Ahrtal ein Zuhause gefunden, doch die Flut zwang ihn zu einem abermaligen Neuanfang. „Ich lasse mich nicht unterkriegen und bin fähig, mich um mich selbst zu kümmern“, betont er. Heimat findet für ihn vor allem im Kopf statt. „Wenn ich an Uganda denke, muss ich an meine Oma denken. Aber mittlerweile ist Deutschland meine Heimat“, so Makanga.

Bereits über eine anerkannte Ausbildung verfügte Myrna Mardo zum Zeitpunkt ihrer Flucht. Sie lebt seit 2013 in Deutschland und besuchte eine deutsche Schule im Libanon. Dort konnte sie eine anerkannte Ausbildung zur Kosmetikerin abschließen und in Aleppo ein Unternehmen gründen. „Uns ging es vor dem Krieg in Syrien gut, und ich habe immer gesagt, dass ich zurückgehe, wenn die Kinder alt genug sind, um für sich selbst sorgen zu können. Aber das geht so nicht mehr, denn eine Hälfte von mir lebt längst hier in Deutschland und hat hier eine neue Heimat gefunden. Ich kann nicht mehr so einfach zurück“, sagt die Mardo, die seit einigen Jahren deutsche Staatsangehörige ist. Sie betont die Wichtigkeit, so schnell wie möglich die Sprache der neuen Heimat zu lernen. „Ich sprach bei Ankunft kein Wort Deutsch, aber wie soll ich mit meinen Kunden reden, wenn mich niemand versteht?“, fragt sie. Mardo hat nach dem Erhalt des Goethe-Sprachzertifikats B1 auf eigene Faust mithilfe des Internets und der sozialen Medien weiter Deutsch gelernt und arbeitet in ihrem erlernten Beruf.

Maryna Balan musste in ihrem Leben gleich zwei Fluchterfahrungen machen. Die ukrainische Geschichtslehrerin zog mit ihrem Mann im Jahr 2009 nach Syrien, fasziniert vom kulturellen Reichtum des Landes. „Damaskus ist eine der ältesten Städte der Welt. Das frühe Christentum hat überall im Land Spuren hinterlassen. Ich nenne Syrien daher das Museum vor dem Himmel“, gerät Balan ins Schwärmen. Doch der Krieg zwang auch die Historikerin und ihren Mann zur Flucht. „Uns war schon 2012 klar, dass wir nicht in die Ukraine können. Meine Familie lebt in Odessa, und im Donbas herrscht seit 2014 Krieg.“ Seit 2016 nennt sie daher Deutschland ihre neue Heimat und zitiert Cicero: „Ubi bene, ibi patria – Wo es mir gut geht, dort ist meine Heimat.“ Mittlerweile ist Balan in der Flüchtlingshilfe aktiv und betreut ukrainische Flüchtlinge, meist Frauen mit Kindern. „Wir haben mittlerweile über 500 geflüchtete Menschen aus der Ukraine und sind auf jede Hilfe angewiesen“, betonte Werner Rex zum Abschluss der gelungenen Veranstaltung. Mmi

Über die Arbeit von Kultur- und Heimatverein Niederzissen und Flüchtlingshilfe

Der Kultur- und Heimatverein Niederzissen widmet sich seit seiner Gründung im Jahr 2007 der Erforschung und Bewahrung der Niederzissener Ortsgeschichte. Ein Schwerpunkt der Vereinsarbeit liegt auf der Erforschung und Dokumentation jüdischen Lebens in Niederzissen. Hierzu obliegt dem Verein seit 2012 die Betriebsführung der Ehemaligen Synagoge, die sich mittlerweile in Trägerschaft der Ortsgemeinde Niederzissen befindet. Der Verein ist Kooperationspartner des Landtages Rheinland-Pfalz im Rahmen des Holocaustgedenktages am 27. Januar, dem Tag der Befreiung des KZ-Auschwitz. Die geplanten Veranstaltungen im Rahmen dieser Kooperation sind der Internetseite der ehemaligen Synagoge zu entnehmen unter www.ehem-synagoge-niederzissen.de“.

Die Ökumenische Flüchtlingshilfe Rhein-Ahr betreut Flüchtlinge im Kreis Ahrweiler. Dabei stehen ein ganzheitlicher Ansatz und die Hilfe zur Selbsthilfe im Vordergrund. Der Verein wird von den beiden großen Kirchen des Landkreises Ahrweiler finanziell getragen, aber auch von regionalen Kreditinstituten und Privatpersonen unterstützt. Er ist aus dem 1986 gegründeten Arbeitskreis Asyl hervorgegangen und bietet mittlerweile feste Sprechstunden in vielen Ortsgemeinden des Kreises an. Außerdem richtet er jährlich ein Begegnungsfest in Bad Neuenahr aus. Über die Arbeit des Vereins informiert ausführlich die Internetseite www.oefh-aw.de. Mmi

Rhein-Zeitung Kreis Ahrweiler, Dienstag, 16. Januar 2024, Seite 21